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Gesamtweltcup-Sieger Marco Odermatt: was ihn zum Phänomen macht

GesamtweltcupSieger Marco Odermatt was ihn zum Phänomen macht
Zu gut, um gewöhnlich zu sein: Odermatt steht vor den entscheidenden Tagen der Saison schon als Gesamtweltcup-Sieger fest. Er dominiert die Szene wie zuletzt Marcel Hirscher – aber was unterscheidet ihn von Hirscher und anderen Grössen?

Zu gut, um gewöhnlich zu sein: Odermatt steht vor den entscheidenden Tagen der Saison schon als Gesamtweltcup-Sieger fest. Er dominiert die Szene wie zuletzt Marcel Hirscher – aber was unterscheidet ihn von Hirscher und anderen Grössen?

Mehr Freimut geht kaum, mehr Freiheit auf Ski auch nicht: Marco Odermatt.

Mehr Freimut geht kaum, mehr Freiheit auf Ski auch nicht: Marco Odermatt.

Anna Szilagyi / EPA

1056 Punkte. Mit diesem Vorsprung startet Marco Odermatt am Wochenende in den Weltcup-Final in Saalbach. Vier Weltcup-Rennen stehen in den nächsten neun Tagen noch bevor, der Gesamtweltcup-Sieg ist dem Nidwaldner längst nicht mehr zu nehmen. Der Gesamtzweite und der Gesamtdritte, Manuel Feller und Loïc Meillard, bleiben sogar gemeinsam unter Odermatts Punktzahl.

Odermatt, ein Phänomen.

Um dieses Phänomen zu verstehen, hilft es, in der «Süddeutschen Zeitung» vom 28. Februar zu lesen. Darin steht, Odermatts Vater habe einst «eine Art Leistungszentrum um den Sohn herum» gegründet.

Kein Wunder, erreicht Odermatt solche Superlative.

Odermatt, 26 Jahre alt, wird zum dritten Mal in Serie als Gesamtsieger gekürt werden, drei Erfolge hintereinander gelangen vor ihm erst Gustav Thöni, Phil Mahre, Ingemar Stenmark und Marcel Hirscher. Odermatt wird auch die Disziplinenwertung im Riesenslalom gewinnen, womöglich auch in der Abfahrt und im Super-G. Im bisherigen Saisonverlauf ist er zu dreiundzwanzig Rennen angetreten, zwanzigmal stand er auf dem Podest; in den übrigen drei Rennen war er Vierter, Siebenter, Siebenter. Im Riesenslalom gewann er neun von neun Rennen; im Finalrennen vom Samstag strebt er nach seltener Perfektion, zehnmal fahren, zehnmal siegen.

Es bleibt nichts anderes übrig, als dieses Phänomen so zu erklären, dass Odermatts Vater einst eine Art Leistungszentrum um den Sohn herum gegründet hat.

Wie Miller oder Hirscher? Das Rebellentum beschränkte sich auf zwei Buchstaben

Vor zwei Jahren sagte die «NZZ am Sonntag» zum Vater Walter Odermatt, dass er zu den «Treibern» gehört habe beim Aufbau der Begabtenförderung Hergiswil: «Hatten Sie damals bereits die Karriere Ihres Sohnes im Kopf?» Odermatts Antwort: «Total nicht, auch wenn ich das von Neidern manchmal höre. Ich machte das wegen Reto Schmidiger und Andrea Ellenberger, die einige Jahre älter sind als Marco. Ich sah ihr Talent und wollte ihnen helfen auf ihrem Weg. Marco fuhr damals noch nicht einmal Animationsrennen.»

2005 lancierte Walter Odermatt mit Reto Schmidigers Vater Paul dieses Projekt der Ski-Begabtenförderung, das leistungsorientierten Jugendlichen Ausbildungsplätze ab der siebten Klasse anbot. In diesem Jahr feierte Marco den achten Geburtstag. Der Vater verhehlt nicht, dass er hoffte, Marco möge ähnlich talentiert sein wie Ellenberger und Schmidiger. Aber er lancierte dieses Projekt nicht, um dem Sohn einen Ausbildungsplatz ab der siebten Klasse freizuhalten. Marco hatte einen Eigenantrieb und drängte darauf, mit den Grösseren auf die Piste zu gehen. Walter Odermatt sagte zu ihm: «Du musst selbst aufs WC können, dann darfst du ins Skiklub-Training.»

Trotz Neidern wird Walter Odermatt weitum zugestanden: Er engagierte sich für alle und nicht für ein Sohnemann-Sonderprogramm. Doch Marco Odermatt ist zu gut und zu gross geworden, als dass sich Karriere und Erfolge herkömmlich erklären liessen.

Odermatt hat nicht die Outlaw-Story von Bode Miller, der ohne Strom und fliessend Wasser aufwuchs. Er bietet auch nicht die Aufsteigergeschichte von Hermann Maier, den die Leute erst wahrnahmen, als er schon dreiundzwanzig war und in einem Weltcup-Rennen als Vorfahrer auffallend schnell fuhr. Odermatt und sein Vater waren nie Rebellen wie Marcel und sein Vater Ferdinand Hirscher, die dem österreichischen Verband mit einem Nationenwechsel drohten, zu den Niederlanden, der Heimat der Mutter.

Walter Odermatt indes redete nicht mehr mit, sobald Marco der regionalen Begabtenförderung entwachsen war und Swiss-Ski-Kadern angehörte. Dazu sagte der Vater einst, erstens habe Marco die Gabe gehabt, von jedem Trainer das Positive mitzunehmen, und zweitens sei es immer vorwärtsgegangen. Auf die Frage, ob er sich andernfalls eingemischt hätte, sagte Walter Odermatt: «Ja.» Sein Rebellentum beschränkte sich auf zwei Buchstaben.

Es blieb ein hypothetisches Rebellen-Ja. Weil es immer vorwärtsging und sich Odermatt auch nicht via Familien- und Privatteam hochkämpfte wie Lara Gut-Behrami oder die Geschwister Janica und Ivica Kostelic. Wie sagte Ivica Kostelic einst über das Leben mit seiner Schwester und seinem Vater Ante: «Das einzige Harte für uns war, dass wir kein Geld hatten. Wir standen damals wirklich vor der Wahl: Entweder kaufen wir ein Skilift-Ticket für den nächsten Tag, oder wir schlafen in einem Hotel. Wir brauchten den Skilift, also konnten wir nicht ins Hotel gehen.» Sie hätten im Freien übernachtet, «nur Janica durfte im Auto übernachten. Das tönt spektakulär, war aber in unserer Familie fast normal.»

Marco Odermatt lässt es krachen, aber immer so, dass er nicht verliert, Rennen oder Image

Spektakulär, aber fast normal: Darum geht es Jahre später bei Marco Odermatt. Und so weit ist es im Spitzensport: dass ein gewöhnlicher Werdegang nicht mehr für möglich gehalten wird. Denn darin liegt die Besonderheit, die Odermatt zum Phänomen macht: dass er kaum Besonderheiten in Anspruch nahm. Er stieg durch den gängigen Verbandsweg auf, aus einem gutbürgerlichen Schweizer Elternhaus mit Strom und fliessend Wasser und ohne zweites Heimatland. Sagen wir es so: Seine Extravaganz beschränkte sich darauf, dass er auf den sonntäglichen Familienspaziergang das Einrad mitnahm und damit durch Feld, Wald und Wiese fuhr.

Er mag ein Glückskind sein, dem vieles scheinbar in den Schoss fällt, Bewegungstalent, Intelligenz, Beliebtheit, Anstand. An der Sportmittelschule in Engelberg legte er die drittbeste Matura ab. Wenn Schüler gemeinsam Streiche spielten, war es Odermatt, den die Lehrer nicht erwischten. Er weiss, wie siegen geht und feiern, er lässt es beidenorts krachen, auf der Piste und im Ausgang, aber immer so, dass er nicht verliert, Rennen oder Image.

Odermatt weiss noch gar nicht, wie verlieren geht.

Es gibt Filmchen, in denen er leicht angeheitert wirkt, so im Februar 2023, als er nach dem WM-Abfahrtstitel das SRF-Studio besuchte. Diese Flasche müsste allmählich geöffnet werden, damit er reden könne, sagte Odermatt und meinte einen Weisswein. «Haben Sie einen trockenen Mund? Oder sind Sie unterzuckert?», fragte der Moderator. «Oder überalkoholisiert, wer weiss», sagte Odermatt.

Anstossen mit dem Weltmeister: Marco Odermatt nach dem Abfahrtsgold im Februar 2023.

Youtube

In anderen Fällen wären wissenschaftliche Abhandlungen über die Seriosität von Spitzensportlern verfasst worden, wer weiss; bei Odermatts wird’s mit Schmunzeln zur Kenntnis genommen. Die Skination sieht es ihm nach und verzeiht. Auch dank Odermatts Offenheit vermutlich, mehr Freimut geht kaum.

Oder dieser Tage: ein Instagram-Filmchen von Justin Murisier, wie er mit Odermatt und Gino Caviezel auf Ski durch verschneite Wälder saust, immer wieder haarscharf an Bäumen und Bäumchen vorbei, mehr Freiheit auf Ski geht kaum. Auch in diesem Fall würden es Saubermänner vermutlich schaffen, Odermatt an eine Vorbildfunktion zu erinnern. Aber sie lassen ihm das Stückchen Freiheit.

Es ist das Bemerkenswerte bei Odermatt: wie er sich selber überlassen wird – dass er machen darf, was er will; dass kaum jemand moralisiert und er keine Kräfte verbraucht, um gegen Kritiker anzukommen.

Odermatt lernt von heute auf morgen, von Tor zu Tor

Und so darf er als Gewinner sein Leben leben, in vermeintlicher Nahbarkeit, mit kaschiertem Ehrgeiz und Perfektionismus. Unvergessen auch, wie er an den vergangenen Lauberhornrennen nach der Siegerehrung durch Dorf und Dunkelheit marschiert, hinter ihm Kinder, die ein Autogramm wünschen – und Odermatt den Wunsch angemessen freundlich und deutlich ablehnt und sagt: «Ich habe noch kein Zmittag gehabt, weisst du.»

Nach dem nächsten Rennen sass Odermatt am frühen Nachmittag neben seinem Konkurrenten Aleksander Kilde im Schnee und löffelte ein Zmittag. Besser organisiert, von heute auf morgen. Ebenso: vom einen Tor zum nächsten. Anfang März startete er hasardierend in den zweiten Lauf des Riesenslaloms von Aspen, hielt sich im Rennen, korrigierte und beschleunigte und gewann auch dieses Mal.

Vielleicht findet er dadurch zu Perfektion: weil er bereit ist, das Imperfekte zuzulassen.

Marcel Hirscher, seinen Vorgänger als Weltcup-Dominator, Gesamtsieger 2012 bis 2019, fragte ein TV-Sender einst nach Schwächen. Hirscher überlegte elf Sekunden und sagte: «Ich habe genug Schwächen, gell, aber ich überlege grad, welche ich im Fernsehen sagen will.»

Odermatt zögert keine Sekunde und sagt, er sei überalkoholisiert, wer weiss.

Bei derselben Gelegenheit sagte er: «Jetzt hier stehen zu dürfen und irgendwie die Karriere komplett zu haben – das ist unglaublich.» Gesamtweltcup-Sieger, Weltmeister, Olympiasieger, teilweise in mehrfacher Ausführung, er hat es früher erreicht als Hirscher, der 28 war, als er die Karriere komplett hatte, dank Olympiagold 2018, endlich.

Hirscher hat so viele Gesamtweltcup-Siege wie niemand sonst, Ingemar Stenmark hat so viele Weltcup-Siege wie kein anderer Rennfahrer, Hermann Maier hat eine einmalige Auferstehungsgeschichte, weil er nach einem schweren Töffunfall noch einmal den Gesamtweltcup gewann. Alberto Tomba vereinte Erfolg und Extravaganz wie niemand sonst.

Und was hat Odermatt? Noch Zeit.

Stenmark, Maier und Tomba, all diese Namen kamen vor im Februar-Text der «Süddeutschen Zeitung», der die Frage aufwarf, ob es sich bei Odermatt um den «vielleicht besten Rennläufer der Alpin-Geschichte» handle. Als könne es nur einen geben. Der Name Hirscher fehlte, was allein schon zeigt, wie viel Beliebigkeit diese Spielerei bereithält. Es kann nicht nur einen geben, dazu ist die Skigeschichte schon viel zu gross.

Aber jeder hat seine Botschaft. Hirscher sagte 2018 in der NZZ: «Wage es nicht, ein falsches Wort zu sagen – im Endeffekt ist alles komplett überlegt. Es ist schade, weil auf diese Weise viel Natürlichkeit verlorengeht. Aber es geht nicht anders, weil du sonst nicht alt wirst in diesem Haifischbecken.»

Das ist Odermatts Botschaft: dass er es wagt, ein falsches Wort zu sagen; dass er sich nicht im Haifischbecken wähnt. Er fand zwar auch schon: «Bei heiklen Themen wie Impffragen kannst du es wirklich nur falsch machen. Entweder bist du für diese ein Trottel oder für jene. Da schweigt man besser.» Aber gesellschaftspolitische Aspekte mag fast niemand makellos abzudecken. Dem Skirennsport hat Odermatt Leichtigkeit gegeben, er zeigt, dass auch Unvollkommenheit hilft, komplett zu sein.

Ja, Odermatt hat noch Zeit. Vielleicht sogar, verlieren zu lernen. Und die Skination Schweiz wieder verlieren zu lehren. Dass sie ihm auch verzeiht, wenn er nicht gewinnt.

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