Russischer Angriff auf Ukraine: "Putin verschiebt die Grenze nach Polen"
Interview
Stand: 24.02.2022 13:59 Uhr
Russlands Präsident Putin will die Grenzen nach Westen verschieben, sagt Sicherheitsexperte Mölling im Interview. Deutschland als EU-Schwergewicht müsse nun seine wirtschaftlichen Hebel nutzen. Die Bundeswehr könne nur wenig tun.
tagesschau.de: Wir haben Krieg in Europa. Eine Zäsur?
Christian Mölling: Ja, wenn auch absehbar. Seit heute Morgen ist das Realität. Russland und Putin haben einen Krieg angezettelt, der Grenzen verschieben soll. Es verschiebt aber nicht nur Grenzen, sondern das gesamte Ordnungssystem. Das wird massive Folgen haben.
tagesschau.de: Was erwarten Sie?
Mölling: Es wird Flüchtlingsbewegungen geben. Und es ist völlig unwahrscheinlich, dass sich EU und NATO aus dem Krieg raushalten können.
Zur Person
Christian Mölling ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er ist Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, NATO und Deutschlands.
tagesschau.de: In welcher Rolle sehen Sie NATO, EU und auch Deutschland?
Mölling: Die NATO hat zunächst einmal primär die Aufgabe, die Grenzen des Bündnisses zu verteidigen. Sollte Putin - und danach sieht aus - die gesamte Ukraine einnehmen, hätte er die Grenzen nach Westen verschoben, an die Grenze der NATO heran. Das wäre fast ein Treppenwitz der Geschichte, da er ja immer behauptete, die NATO hätte die Grenzen nach Osten verschoben. Das war ohnehin immer eine Lüge. Russland hat dem 1997 zugestimmt.
Putin verschiebt nun die russische Grenze nach Polen. Ich gehe davon aus, dass in den nächsten Tagen US-Truppen eingeflogen werden. Mittelfristig muss die NATO ihre gesamte Verteidigungsplanung überarbeiten ...
tagesschau.de: ... sprich aktualisieren?
Mölling: Ja, weil man neue Annahmen über Russland als Aggressor zugrunde legen muss. Und außerdem, weil sich die geostrategische Lage durch diesen russischen Angriffskrieg massiv verändert hat.
Deutschland ist nicht Zünglein an der Waagetagesschau.de: Welche Rolle spielt Deutschland als NATO-Partner und EU-Mitglied?
Mölling: Wir sind nicht das Zünglein an der Waage. Wir sind ein riesiges Gewicht auf dieser Waage. Wenn Deutschland aus innenpolitischen Gründen nicht handeln kann, ist Europa und auch die NATO handlungsunfähig. Es kommt hier massiv auf Deutschland an. Wir sind der reichste Staat in der EU, wir können vorangehen etwa bei den Sanktionen. Den finanziellen Verlust, der damit einhergeht, können wir tragen.
tagesschau.de: Und Putin lässt sich dadurch beeindrucken?
Mölling: Die aktuelle Situation können wir nicht mehr beeinflussen. Aber wenn Putin die Ukraine eingenommen hat, in welcher Situation ist er dann? Das können wir noch beeinflussen. Aber nur mit massiven Sanktionen auf der einen Seite und einer abgestimmten und sehr ausbalancierten militärischen Präsenz auf der anderen Seite. Plus: Russland so weit es irgendwie geht politisch zu isolieren.
Bundeswehr wurde abgewirtschaftettagesschau.de: Stichwort: militärische Reaktion - was könnte denn die Bundeswehr leisten?
Mölling: Die Bundeswehr wurde 20 Jahre abgewirtschaftet. Es hat ja auch niemand geglaubt, dass wir noch mal einen großen Krieg in Europa haben werden. Und jetzt ist er da. Entsprechend kalt erwischt sind wir nun, weil wir militärisch nicht viele Handlungsoptionen haben. Den russischen Drohungen können wir also militärisch wenig entgegensetzen. Umso wichtiger sind die Finanz- und Wirtschaftssanktionen. Sie müssen die Oligarchen treffen, das gesamte russische Wirtschaftssystem. Mittelfristig dürfte es genug Leute in Russland geben, die dann nervös werden.
tagesschau.de: Militärische Hebel sehen Sie nicht?
Mölling: Doch, innerhalb der NATO. Und hier müssen wir jetzt auch agieren. Also die NATO-Eingreiftruppe in höhere Alarmbereitschaft versetzen, Reservisten einberufen ... Um Putin klarzumachen: Es gibt eine Grenze. Und das ist die Ostgrenze Polens. Die Bundeswehr ist hier ein verlässlicher NATO-Partner, vor allem im Bereich Logistik. Wir haben nicht nichts, aber wir haben deutlich weniger an Material, als wir haben sollten. Der Ernst der Lage ist in der Bundesregierung inzwischen verstanden worden.
5000 Helme - eine Peinlichkeittagesschau.de: Die Ukraine fordert Waffenlieferungen ...
Mölling: Nach meiner Kenntnis, sind die 5000 Helme der Bundeswehr immer noch nicht in der Ukraine angekommen. Das ist eine Peinlichkeit sondergleichen. Waffenlieferungen zum jetzigen Zeitpunkt werden nichts mehr nutzen. Bis die Waffen da sind, wird es zu spät sein. Auch das war absehbar. Doch es gab hier eine Kurzsichtigkeit und Ablehnung von Realität seitens der Bundesregierung, die dramatisch ist.
Naive Russlandpolitik?tagesschau.de: War Deutschlands Russland-Politik der vergangenen Jahre naiv?
Mölling: Sie ging davon aus, dass die Welt eine gute ist und auf Kooperation beruht. Diese Annahme ist seit heute Morgen Geschichte. Putins Russland war in den vergangenen Jahren kein Partner und kann auch in Zukunft keiner sein.
Deutschland ist kein Beobachter in diesem Konflikttagesschau.de: Nord Stream 2 ist tot?
Mölling: Ja. Spannender ist die Frage nach Nord Stream 1. Kappt man auch diese Verbindung, wäre das ein starkes Signal. Putin spekuliert, dass wir nicht dazu bereit sind, unseren wirtschaftlichen Wohlstand kurzfristig für die Ukraine aufzugeben.
tagesschau.de: Jetzt, wo die russischen Panzer rollen: Sind wir dazu bereit?
Mölling: Deutschland muss sich klarmachen, dass es kein Beobachter in diesem Konflikt ist oder sich weiter hinter den hohen moralischen Standards verstecken. So haben wir ja auch die jahrelange Inaktivität begründet. Putin konnte eigentlich immer sicher sein, dass die Deutschen bei militärischen Konflikten eh nicht mitmachen. Jetzt haben wir Krieg vor der Haustür. Mehr noch: Nicht mehr vor der Haustür. Sondern im Haus - im demokratischen Europa, denn dazu gehört die Ukraine.
Das Interview führte Wenke Börnsen, tagesschau.de