Gisèle Pelicot lenkte den Blick auf die einzig Schuldigen
Kopf des Tages
Die Französin hat durch ihren mutigen Schritt, den Prozess gegen ihre Vergewaltiger öffentlich zu führen, den Diskurs über sexuelle Gewalt wohl langfristig geprägt
Kopf des Tages
/Fabian Sommavilla
19. Dezember 2024, 17:17
Gisèle Pelicots Bild wird bleiben. Die 72-jährige Französin ist wegen der Brutalität der Verbrechen gegen sie seit September 2024 als Vergewaltigungsopfer bekannt. Ihr Gesicht ziert dieser Tage nicht nur die Cover von Magazinen und Zeitschriften, die in Vergessenheit geraten können. Doch Pelicot wurde durch die beeindruckende freiwillige Aufgabe ihrer Anonymitätsrechte im Prozess rund um die Vergewaltigungen von Mazan zur langfristigen Ikone der feministischen Bewegung. Seit Wochen ist sie auf Protestschildern und Streetart in Städten Europas zu sehen. In den Köpfen wird sie weiterwirken – wohl über die 20-jährige Gefängnisstrafe ihres Ex-Manns und Vergewaltigers und dessen Tod hinaus.
Die im baden-württembergischen Villingen-Schwenningen geborene Tochter eines französischen Soldaten verlor ihre Mutter bereits im Alter von neun Jahren an Krebs. Als Gisèle fünf war, zog ihre Familie nach Paris, wo sie ihren späteren Ehemann Dominique Pelicot kennenlernte und mit 18 Jahren heiratete. Mit ihm bekam sie drei Kinder und sieben Enkelkinder, um die sich die pensionierte Büroangestellte beim staatlichen Energieversorger EDF stets liebevoll kümmert.
Die Beziehung wurde nach einer Affäre Gisèle Pelicots Ende der 1990er-Jahre unterbrochen. Dominique Pelicot zog kurz bei einer anderen Frau ein, die Scheidung 2001 soll finanzielle Gründe gehabt haben. Sowohl Gisèle als auch ihr Ex-Mann bestreiten Rache als Motiv für dessen abscheuliche Taten. 2007 heirateten die beiden nach einer Versöhnung erneut. 2013, nach Dominiques Pensionierung, zog das Paar ins beschauliche südostfranzösische Mazan.
Was Gisèle Pelicot nicht wissen konnte: Bereits zwei Jahre zuvor hatte ihr Martyrium begonnen. Ihr Mann hatte angstlösende Pillen, die seiner Frau verschrieben wurden, mit Schlaftabletten gemixt und sie immer wieder vergewaltigt. In Südfrankreich sorgte der nun Verurteilte dafür, dass die reglose Gisèle Pelicot bis 2021 von mehr als 70 Männern vergewaltigt wurde.
Doch die Scham liege nicht bei ihr, sondern bei den Vergewaltigern, sagte Gisèle Pelicot im Prozess. Mit dessen Fortdauer fand sie, bestärkt durch applaudierende Demonstrierende, die Kraft, die kreisrunde Sonnenbrille abzulegen, die ihr anfangs ein wenig Privatsphäre bot. Psychotherapie und lange Spaziergänge würden ihr bei der Verarbeitung des Erlebten helfen, sagt sie. (Fabian Sommavilla, 19.12.2024)