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Die Schande hat nach dem Vergewaltigungsprozess von Avignon ...

Die Schande hat nach dem Vergewaltigungsprozess von Avignon
Die 51 Peiniger von Gisèle Pelicot sind allesamt zu Haftstrafen verurteilt worden. Nun ist die Politik am Zug, um zu einem wahren Wandel im Umgang mit dem Thema, der Gewalt an Frauen, beizutragen

Gisèle Pelicot

Die 51 Peiniger von Gisèle Pelicot sind allesamt zu Haftstrafen verurteilt worden. Nun ist die Politik am Zug, um zu einem wahren Wandel im Umgang mit dem Thema, der Gewalt an Frauen, beizutragen

Analyse

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Stefan Brändle

aus Paris

19. Dezember 2024, 15:04

Der Prozess gegen den französischen Serienvergewaltiger Dominique Pelicot und seine 50 Komplizen – wahrscheinlich waren es aber um die 70 – ist am Donnerstag mit den erwarteten Schuldsprüchen zu Ende gegangen. Und mit zwei ebenso klaren Siegerinnen: Gisèle Pelicot, dem Opfer – und ihrer Forderung, die Schande müsse endlich "die Seite wechseln".

Doch ebenso wichtig wie die Verurteilungen war das Gerichtsverfahren selbst – und zwar im wahrsten Wortsinn: als Fortentwicklung der Debatte über Gewalt an Frauen. Auch deshalb, nicht nur wegen der Monstrosität des Geschehenen, war dies ein historischer Prozess. Zumindest für Frankreich könnte er zu einer Zäsur werden wie anderswo, etwa in den USA, die #MeToo-Debatte: dann nämlich, wenn die Opfer die Schande und das Schamgefühl wirklich auf die Täter übertragen können.

Gisèle Pelicot gilt heute als Ikone der Frauen. Sie zahlte dafür aber einen hohen Preis: Jahrelang war sie Opfer systematischer Gewalt von Männern.
REUTERS/ALEXANDRE DIMOU

Das wäre dann auch ein Verdienst der Justiz. Die fünf Berufsrichter, angeführt von Roger Arata, entlarvten monatelang auf geduldige und geschickte Weise die tieferen Motive dieser schier unglaublichen Untaten an einer jahrelang immer wieder betäubten, von ihrem eigenen Gatten vergewaltigte und weitergereichten Frau.

Tabuisierte Themen

Klar ist auch: Dieser Fall warf auch ein Schlaglicht auf oftmals verdrängte, wenn nicht rundweg tabuisierte Themen: Gewalt in der Ehe, juristische Grenzen der Internetpornografie sowie sexuelles Gefügigmachen mit Schlafmitteln, Partydrogen oder K.-o.-Tropfen. Für viele war "Avignon" noch mehr: nämlich ein hochpolitischer Prozess über den "Patriarchalismus" (so Gisèle Pelicot) und die "Kultur der Vergewaltigung" (so die Frauenverbände).

Die renommierte französische Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesco ist damit nur zum Teil einverstanden. Dominique Pelicot und die Mitangeklagten seien ihr zufolge "keine normalen Männer", sondern hochgradig gestört oder pervers. "Deshalb ist dieser Prozess in meinen Augen kein Prozess gegen die Maskulinität oder das Patriarchat."

"Die Schande wechselt die Seite" – Demo vor dem Gerichtsgebäude in Avignon.
REUTERS/ALEXANDRE DIMOU

Dominique Pelicot und andere räumten jedenfalls teils freimütig ein, sie würden "widerspenstige" Frauen hassen; sie wollten sie beherrschen, unterwerfen, eben vergewaltigen. Unnötig zu sagen: Das ist ein Verbrechen. Und wer einen anderen Menschen zu diesem Zweck auch noch betäubt – eine der perfidesten und absolutesten Formen von Dominanz –, macht sich laut Strafrecht eines erschwerenden Umstandes schuldig.

Politische Aspekte

Aber auch die politischen Aspekte des Falles waren nicht zu übersehen. Nachdem sie ein Jahrzehnt immer wieder misshandelt worden war, erlebte Gisèle Pelicot vor Gericht ein zweites Mal systematische Attacken auf ihre Identität und Integrität als Frau. Dazu gehörten die immer wiederkehrenden Zweifel an ihrer "passiven Rolle" während der Gewaltakte.

Es brauchte Mut, sich monatelang einer Gruppe von mehr als 50 Angeklagten zu stellen. Gisèle Pelicot hatte ihn. Wenn sie nun über die Landesgrenzen hinaus den Status einer Ikone der Frauen erhält, dann nicht ohne Grund: Die Französin gab dem weltweiten Kampf gegen gewalttätige Ehemänner oder Internetbekanntschaften ein Gesicht und neue Kraft. Sie wird weit über den Prozess hinauswirken. Staatsanwältin Laure Chabaud gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass das Urteil "das kollektive Bewusstsein" schärfe und "die Erziehung der Söhne" verbessere.

Porträt: Die unbeugsame Gisèle Pelicot
AFP

Die Regierung in Paris hat bereits diverse Maßnahmen ergriffen. So wird Betäubungsopfern erstmals geholfen: Ärztliche Tests, die eine Frau vornehmen lässt, wenn sie nachträglich den Verdacht hegt, dass sie mit Drogen und dergleichen gefügig gemacht worden war, werden in Frankreich nunmehr von der Krankenkasse erstattet. Und das ist wohl erst der Anfang: Expertinnen verlangen auch weitere polizeiliche oder juristische Maßnahmen, weil das Ausmaß der "sexuellen Unterwerfung", wie man in Frankreich sagt, sträflich unterschätzt werde. Gerichtsklagen bleiben sehr selten – und das nicht, weil das Phänomen selten wäre.

Vergewaltigungsopfer werden zudem in Frankreich ihre Anzeige schon im Spital deponieren können. Polizeikräfte müssen also mitunter künftig das Krankenbett aufsuchen. Ferner will die Regierung Frauenhäuser besser unterstützen. Statistisch gerechnet sind allein während des Pelicot-Prozesses in Frankreich 30 Frauen durch die Gewalt ihrer – oder seltener: anderer – Männer umgekommen.

Juristische Debatte

Schon während des Prozesses wurde die Frage diskutiert, wie der Straftatbestand der Vergewaltigung besser zu definieren sei. Soll sie bereits gegeben sein, wenn die Frau keine explizite Zustimmung zum Sex gibt – das heißt: Ist "nur ein Ja ein Ja"? Einige Feministinnen verlangten dies in Avignon, andere sind dagegen: Sie befürchten, dass die Antwort auf die Frage, ob eine Vergewaltigung vorlag, in dem Fall zu stark vom Verhalten der Frau – und damit weniger des Vergewaltigers – abhängen könnte. Darüber wird das Parlament in Paris entscheiden müssen.

Diese sehr politische Debatte verdrängte ein nicht minder wichtiges Element der Affäre Pelicot, nämlich den Einfluss digitaler Plattformen. Dominique Pelicot hatte seine Komplizen über die Webseite Coco eingeladen. Allein schon Dateinamen wie "à son insu" (gegen ihren Willen) machten klar, worum es ging: nämlich um sexuellen Missbrauch. Wie bei dem Prozess bekannt wurde, sind die zwei häufigsten Suchwörter auf Pornosuchmaschinen "Vergewaltigung" und "Inzest" – zwei im realen Leben schwere Straftaten.

Coco ist heute geschlossen, doch andere Portale sind längst an die Stelle getreten. Hier herrscht Handlungsbedarf, weit über den Prozess hinaus. Erstaunlicherweise kam diese Frage bei dem Prozess in Avignon selten zur Sprache. Ein Makel eines sonst tadellos geführten Prozesses. (Stefan Brändle aus Paris, 19.12.2024)

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