Der Fall Pelicot: Unfassbar? Monströs?
Aus Liebe zum Detail
Obwohl es einfach ist, Männer innerhalb eines Radius von 50 Kilometern zu finden, die bereit sind, eine Frau zu vergewaltigen. Obwohl wir um das Ausmaß an Gewalt gegen Frauen wissen: Wir geben uns weiter begriffsstutzig
Kolumne
/Nils Pickert
20. Dezember 2024, 06:00
Weniger als 50 Kilometer. Weiter mussten die meisten der 50 Männer nicht anreisen, um auf Einladung von Dominique Pélicot dessen zuvor durch ihn betäubte Ehefrau Gisèle zu vergewaltigen. Eine vierzigminütige Autofahrt, wenn einer der Täter über die D942 aus Avignon anreiste. Oder nur ein kleiner Spaziergang zum Haus der Pélicots, wenn es sich um einen Nachbarn aus der kleinen Gemeinde Mazan handelte, in der kaum mehr als 6000 Menschen leben. Vielleicht haben sie sich zuvor noch von ihren Freundinnen, Ehefrauen oder Kindern verabschiedet. Oder sich darüber gefreut, dass sie mit einer ihnen bekannten HIV-Erkrankung Gisèle Pélicot zum sechsten Mal ohne Kondom vergewaltigen können.
Vor kurzem hat das Gericht alle Angeklagten für schuldig befunden. Der jüngste Täter war zum Tatzeitpunkt 21. Der älteste 68. Der Feuerwehrmann, der Journalist, der Gelegenheitsarbeiter, der DJ, der Pfleger, der verrentete Sportlehrer, der Gefängniswärter – sie alle sind schuldig.
Und obwohl der Prozess in Avignon von einem massiven Interesse der Öffentlichkeit und von umfangreicher Berichterstattung begleitet wird, scheinen wir immer noch nicht verstanden zu haben, was dieser Fall, was alle Vergewaltigungsfälle bedeuten. Weniger als 50 Kilometer bedeutet, dass es einfach ist. Dass es leicht ist, die dutzendfache Vergewaltigung der eigenen Ehefrau durch Mittäter zu organisieren, durchzuführen und zu dokumentieren.
Gedankliche und sprachliche Distanz
In einer globalen Pandemie sexualisierter Gewalt gegen Frauen geben wir uns anhaltend begriffsstutzig. Wir sind mehrheitlich fassungslos, wenn Leute angesichts der Datenlage ernsthaft den menschengemachten Klimawandel leugnen und mehrheitlich desinteressiert an den männergemachten exzessiven Gewaltakten gegen Frauen sind. Wir distanzieren uns gedanklich und sprachlich. Wir nennen die Taten unfassbar und die Täter monströs. Typen, die so durchschnittlich und gewöhnlich sind, dass sie sich problemlos innerhalb eines Radius von 50 Kilometern auftreiben lassen.
Ich möchte, dass Sie sich das vorstellen: Da sitzt ein älterer Herr in irgendeinem Kaff am Arsch von Frankreich und organisiert über eine ganze Dekade die Vergewaltigungen seiner Ehefrau im Internet. Er chattet mit Männern, er schickt ihnen Bilder von früheren Vergewaltigungen seiner Gattin oder davon, wie er das Opfer für die Täter sediert und "präpariert" hat. Die Männer sind voller Vorfreude. Sie sprechen Dominique Pélicot ihre Bewunderung aus und beneiden ihn um sein leicht zugängliches Opfer.
Detaillierte Pläne
Sie schmieden detaillierte Pläne darüber, was sie dem Opfer antun können und wie sie sich verhalten müssen, damit das Opfer nichts merkt. Während des Prozesses klingt das natürlich ganz anders. Da hatten sie "Angst vor dem Ehemann" und sind von einer "einvernehmlichen Spielerei" des Paares ausgegangen. Ein Maler will angesichts der bewusstlosen Gisèle Pélicot gesagt haben, dass sich "Sex" mit ihr aufgrund ihres Zustands nicht lohne – Videoaufnahmen zeigen, wie er das Opfer lächelnd vergewaltigt. Ein Lagerist gibt an, sich von Dominique Pélicot zur Tat gezwungen gefühlt zu haben – und bittet diesen später um ein zweites "Treffen" mit dessen Frau. Die Männer sagen, sie hätten aus Langeweile gehandelt. Aus Einsamkeit, Interesse an einem Dreier, sexueller Frustration mit der eigenen Ehefrau. Sie hätten dem Ehepaar Pélicot einen Gefallen tun wollen. Der Sohn sei gestorben. Sie hätten sich nach Liebe gesehnt. Sie hätten einfach nichts Besseres zu tun gehabt.
Einige Männer geben an, dass ihnen nach der Tat aufgefallen wäre, dass etwas nicht stimmte. Zur Polizei ging niemand. Weil "wer glaubt schon einem einfachen Elektriker", und "das Leben ging halt weiter". In einer Welt, in der den Opfern sexualisierter Gewalt viel zu häufig nicht geglaubt wird und diese sich fragen lassen müssen, was denn wohl ihr Anteil an der Tat gewesen sei, erzählen Täter, dass ihnen die Polizei nicht glauben würde. Sie sprechen davon, dass sie sich mit der Vergewaltigung von Gisèle Pélicot hätten "trösten" wollen. Sie sagen, sie hätten das Opfer "nur berührt", weil sie ja ein "gläubiger Mensch" seien und "Frauen respektieren".
Gisèle Pélicot und mit ihr alle anderen Opfer von sexualisierter Gewalt haben mehr als unser Entsetzen über Taten und Täter verdient. Mehr als eine nicht enden wollende "Oh mein Gott, wie konnte das passieren"-Litanei. Wir wissen doch alle, wie es passieren konnte. Wir haben nur gemeinschaftlich verabredet, es nicht wahrhaben zu wollen. Wir gönnen uns ein gutes Gewissen auf Kosten von Frauen.
Wissen, aber nicht wahrhaben
Wenn wir uns weiterhin begriffsstutzig überrascht geben, anstatt wirklich alles daran zu setzen, diese Pandemie endlich einzudämmen, dann wird es millionenfach wieder passieren. Und falls Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie sich mal, wie groß das eben auf Telegram aufgedeckte Vergewaltiger-Netzwerk ist – und was für Männer dazugehören.
Oder warum fehlende Einvernehmlichkeit in Frankreich bis heute kein Kriterium bei der Einschätzung von sexualisierter Gewalt als Straftat ist. Und das, obwohl Frankreich die genau das einfordernde Istanbulkonvention bereits 2011 unterschrieben hat.
Denn es geht nicht darum, dass diese Taten immer verhindert werden können. Es geht darum, dass wir sie mit aller Kraft so schwer und undurchführbar machen wie nur irgendwie möglich.
In dem Filmklassiker Feld der Träume heißt es: "Wenn du es baust, wird er kommen." In dieser Welt der Albträume muss ein Mann wie Dominique Pélicot seine Ehefrau nur sedieren und "zur Verfügung stellen", damit Männer herbeiströmen und sie vergewaltigen. Aus weniger als 50 Kilometer Entfernung. (Nils Pickert, 20.12.2024)