Schauspiellegende Otto Schenk verstorben
1930–2025
Der Wiener Grantler und Possenreißer verkörperte wie kein zweiter Österreicher vor ihm den Genius der Unbeholfenheit
Ronald Pohl
9. Jänner 2025, 11:39
Seine Kunst, die doch keine Gelegenheit zum Possenreißen verschmähte, besaß etwas Abwartendes, Lauerndes. Otto Schenks Genie war, obzwar es Züge der Sesshaftigkeit trug, raubtierhaft. Seine hinreißende Kraft bezog dieser Erzschelm aus der Reglosigkeit vor dem nächsten Sprung. Otto Schenk war bis zuletzt Österreichs Haupt- und Staatskomödiant. Er verfügte seit Anbeginn über das absolute Gehör für das Ungeschick: für die verzeihliche Unbeholfenheit, mit der Menschen ungebremst von einem Fettnapf in den nächsten steigen.
Dem Dilemma der Schwerkraft half der Wiener Advokatensohn wiederholt ab. In dem Theatersolo Die Sternstunde des Josef Bieder zum Beispiel gelang es Schenk mit seiner gemäßigt pyknischen Erscheinung, die Idee der Grazie perfekt zu veranschaulichen. Als Balletttänzer im Feinrippleibchen schlug er der Gravitation ein Schnippchen. Er zwirbelte seine Erscheinung empor in lichte Anmutshöhen. Das Publikum? Lachte Tränen. Zugleich war es zutiefst gerührt.
Tragischer Schauspieler
Dabei war Otto Schenk ein womöglich tragischer Schauspieler. Nicht erst seit seiner Direktionszeit am Wiener Josefstadt-Theater (1988 bis 1997) mimte er mit Vorliebe den hinfälligen Greis. Sein bevorzugter Daseinsmodus schien von Kindesbeinen an das Abschiednehmen. Insofern bildete Schenk, bis hin zu seinen Beschäftigungen als Witzeerzähler oder als Rheumalind-weicher Fernseh-Opa, die vollendete Verkörperung des österreichischen Prinzips.
Da seine Großeltern väterlicherseits getaufte Juden waren, erlebte das Kind Schenk durchaus schmerzhaft die Ausläufer des nationalsozialistischen Rassenwahns. Er selbst musste kurzzeitig dem Deutschen Jungvolk beitreten. Seine eigene Arbeit verdankte er der Wiener Kaffeehauskultur: der Kunst der Spiegelfechterei, dem Räsonieren.
Schenk, der Max-Reinhardt-Seminarist, absolvierte die Stationen von Josefstadt und Volkstheater scheinbar mühelos. Zugleich ließ sich dieser Spezialist für alles Antiheldische bereits in den 1950ern als Kabarettist feiern, so im berühmten Simpl.
Milde Misanthropie
In seinem "Adlerauge für das Unwesentliche" (Fritz Kortner) fand eine unmerkliche Entfärbung der Wirklichkeit statt. Keine Einrichtung auf Erden, die es verdient hätte, zum Besseren gestaltet zu werden. Lieber schon, so hatte es den Anschein, gab Schenk die Sache des Fortschritts von vornherein verloren. Von allen Handbewegungen war diejenige Schenks die gut erprobte wegwerfende. Durch sie schüttelte er zugleich die Pointen aus dem Ärmel: Ihrer besaß er mehr als jeder andere.
Schenks Haltung glich milder Misanthropie: Jeder Anflug von Tragik wurde von der eigenen Hinfälligkeit im Nu dementiert. Man glaubte Schenk jederzeit die Selbsteinschätzung, er habe sich in Wahrheit nie jung gefühlt. Schon der mittelalte Schenk schien vornehmlich damit beschäftigt, sich geriatrisch zu lockern. Aufzulockern verstand er vornehmlich andere: Im Windschatten seiner Schauspielerei wurde der Grantler zum gefragten Opernregisseur.
Er inszenierte 1963 Bergs Lulu unter der Stabführung von Karl Böhm. Er versetzte Mozarts Don Giovanni ein paar beherzte, dafür umso kühnere Stöße in den Komödien-Unernst: Commedia dell'arte? War dann sogar Dirigent Josef Krips zu viel. Seine allen Mode-Sperenzchen abholde Inszenierungsauffassung verhalf ihm zu Welterfolgen: nicht zuletzt an der New Yorker Met, wo er 1986 Wagners Ring triumphal stemmte und später, im hohen Alter, an Anna Netrebko seine Kunst der Menschenführung erprobte (Don Pasquale, 2006).
Schenks Glaube, dass die menschliche Schwäche der Nachsicht bedürfe, bewahrte ihn vor jedem Anflug von Zynismus. Insofern hielt dieser elementar gewaltige Künstler nicht der Galligkeit Nestroys, sondern der naiven Zauberkraft Raimunds die Treue. Schenk personifizierte, wie vor ihm vielleicht nur der Kaiser in der Doppelmonarchie, das vorweggenommene hohe Alter. Im Licht einer solchen Disposition verflüchtigte sich jeder Gedanke an Umsturz und Aufbegehren wie von selbst. Zorn wich sanftester Mieselsucht.
Schenk focht für das Ideal der "Wahrhaftigkeit", insofern er auch alle von ihm inszenierte Opern in den Gefilden der Alltäglichkeit ansiedelte. Der Operngesang schien ihm die Fortsetzung der natürlichen Verständigung, nur mit anderen stimmlichen Mitteln. Als Schauspieler hingegen wollte er die Zuschauer etwas "glauben machen" – und sei es die Einsicht, dass alles sich auch wirklich so verhält, wie es den Anschein hat.
Skepsis gegenüber Moderne
Schenks Skepsis gegenüber jeder forcierten Form von Moderne gründete im Abbau von Illusionen: Der "echte, natürliche" Mensch tue gut daran, die Zeichen menschlicher Fehlbarkeit der Lächerlichkeit preiszugeben. Schenk kredenzte bis zu seinem Ende "Sachen zum Lachen". Aber im Grunde handelte es sich dabei um Handreichungen: Schenk lockert bloß die unsichtbare Hand, die unser aller Kehlen zusammendrückt.
In diesem Komödianten steckte ein Raubtier, an der Seite seines langjährigen Partners Helmuth Lohner sah man die scharfen Zähne blitzen. Otto Schenk konnte immerfort getrost weitermachen: Er hatte keine Jugend zu verlieren. Zuletzt mimte er den greisen Diener Firs in Tschechows Kirschgarten: ein verschlurft Widerständiger. Schlagartig wurde einem auch bewusst, was für ein genialer Turrini-Spieler Otto Schenk eigentlich war.
Am liebsten aber träumte er in seinem Refugium am Irrsee im Wachzustand von Schnitzler-Figuren. Oder er las Meuten von Wohlstandshunden Erbaulichkeiten vor. Vor Schenks Kunst des Understatements zogen auch Blödler wie Michael Niavarani den Hut. Die Menschen lachten über diesen durchtriebenen Greis bis zum Schluss Tränen. Es war niemand anderer als Schenk, der ihnen so das Weinen ersparte.
Jetzt ist Otto Schenk nach langem, erfülltem Leben am Donnerstag im Alter von 94 Jahren gestorben. (Ronald Pohl, 9.1.2025)