Sagt nicht Werbefotograf zu ihm: Benetton-Provokateur Oliviero ...
Er fotografierte Nonnen beim Zungenkuss, bunte Kondome und blutige T-Shirts: Oliviero Toscani gab der Marke Benetton ihre ikonische Bildsprache. Zum Tod eines Mannes, der den Werbewert der Provokation erkannte – und ihn wie kaum ein anderer zu nutzen wusste.
Wie verkauft man einen bunten Pulli? Oliviero Toscani fand ab den 1980er Jahren Antworten darauf, die zunächst so widersinnig klangen, wie sie im Endeffekt genial waren: mit einem Bild zum Beispiel, das weder bunt war, noch einen Pulli zeigte, sondern eine Nonne ganz in Weiß, die einen Priester ganz in Schwarz küsst. „United Colors of Benetton“ stand dabei. Was für eine Vereinigung! „Nicht das beste meiner Bilder“, sagte Toscani später über das ikonische Werbemotiv, das dennoch exemplarisch ist für seine rebellischen Kampagnen: Mit seinen plakativen, meist mit einem politischen Statement verbundenen, oft mit dem Begriff der „United Colors“ spielenden und immer wieder die akzeptierte Ästhetik der Werbefotografie sprengenden Sujets schuf der italienische Fotograf Meilensteine. Nun ist Oliviero Toscani im Alter von 82 Jahren gestorben.
Ein Neugeborenes, das noch an der Nabelschnur hängt; eine schwarze Frau, die ein weißes Baby stillt; die blutgetränkte Uniform eines im Jugoslawienkriegs gefallenen bosnischen Soldaten; eine Anordnung bunter Kondome; Models in allen Hautfarben: Viele Bilder, die Toscani für den italienischen Modehersteller Benetton schoss, sind bis heute unvergessen. Einige sorgten für heftige Debatten, auch weil sie unbequeme Realitäten in die Werbung holten, weil sie an Tabus rüttelten, weil sie progressive Utopien beschworen. „Ich bin Fotograf, nicht Werber“, sagte Toscani der „Presse“ einmal im Interview.
Freilich ein Fotograf, der wusste, wie werbewirksam Provokation ist. Eines seiner aufsehenerregendsten Motive fotografierte er nicht selbst: 1992 ließ er eine Aufnahme des zwei Jahre zuvor an Aids gestorbenen David Kirby auf Plakatwände drucken. Das Pressefoto zeigt einen ausgemergelten Mann im Sterbebett, umringt von seiner Familie. In Deutschland wurde das Plakat behördlich verboten. „Jeder weiß, wie ein gelber oder grüner oder blauer Pulli aussieht. Aber alle machen sich Gedanken über Aids oder Rassismus oder Krieg“, erklärte Toscani dazu kürzlich in der „Süddeutschen“ seinen Ansatz.
Toscani erkannte der Werbewert von Jesus
Geboren 1942 in Mailand, war ihm die Kamera praktisch in die Wiege gelegt: Sein Vater war Pressefotograf für den „Corriere della Sera“. Fürs Studium ging es an die Kunstgewerbeschule Zürich, danach gleich weiter nach New York, wo er in Kreisen mit Andy Warhol verkehrte, Hipster und Subkultur-Figuren fotografierte und für Modezeitschriften wie die „Vogue“ arbeitete. Einer seiner ersten Werbe-Coups war eine Jeans-Marke namens „Jesus“, die er für den italienischen Sportkleidungshersteller Kappa ersann. Ein Slogan: „Wer mich liebt, der folgt mir.“ Toscani hatte keine Scheu, sich christliche Motive für seine Motive anzueignen, und dies zum genialen Marketing-Kniff zu erklären: Er erkannte den Werbewert der Marke Jesus und nutzte sie. Das Kreuz bezeichnete er einmal als das pfiffigste Logo der Geschichte.
1982 holte ihn Luciano Benetton als Kreativdirektor an Bord, es begann eine langjährige Zusammenarbeit, die 2000 jäh endete: Seine Kampagne „Dem Tod ins Gesicht sehen“ zeigte US-Häftlinge im Todestrakt. Verurteilte Mörder auf einem Modeplakat? Die Reaktionen in Amerika waren heftig, der Bundesstaat Missouri klagte, weil Toscani sich unter falschem Vorwand Zugang zum Gefängnis verschafft haben soll. Davon distanzierte sich dann auch Luciano Benetton. Mit ihm blieb Toscani zeitlebens befreundet. Er sei es gewesen, der Toscani gegen den Druck der anderen Benetton-Manager lange verteidigt habe, erinnerte er sich kürzlich in einem Interview mit dem „Corriere della Sera“: „Alle anderen haben mich gehasst.“ Als Luciano Benetton, der das Unternehmen zwischenzeitlich an seinen Sohn abgegeben hatte, 2017 wieder an die Spitze zurückkehrte, holte er auch Toscani wieder an Bord.
„Diese Generation ist reich und fett“
Zu provozieren wusste dieser auch abseits seiner Benetton-Plakate. Für die „No Anorexia“-Kampagne der Modemarke „Nolita“ lichtete er das magersüchtige Model Isabelle Caro nackt ab: Nur 31 Kilogramm wog die junge Frau, die damit vor allem bei Jugendlichen Bewusstsein für ihre Krankheit schaffen wollte. Die Provokation, die sein 2012 herausgebrachter Peniskalender angeblich hervorrief, war hingegen mehr herbeigeschrieben.
Zuletzt lebte Toscani, der auch ein Weingut in der Toskana besaß, wieder in seiner italienischen Heimat. Zeitungen liebte er, das Fernsehen hasste er. Um plakative Sprüche war er selten verlegen. Über die heutige junge Generation hatte er nicht viel Gutes zu sagen. „Diese Generation ist reich und fett. Das ist doch kein spannendes Leben“, erklärte er 2020 der „Presse“. Er selbst habe noch gekämpft und protestiert.
Und er habe sich immer jung gefühlt. Dann sei er plötzlich über Nacht 80 geworden, erklärte er im Vorjahr. Die seltene Krankheit Amyloidose konfrontierte ihn mit der eigenen Sterblichkeit. Und mit der einzigen Grenze, die für ihn wirklich gelten sollte. Über Moral zu debattieren hatte er sich zeitlebens verbeten. Es gäbe nur ein einziges Foto, das er sicher nicht schießen könne, sagte er: „Ein Bild von mir als Toter. Das werde ich nicht schaffen.“