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Bayer Leverkusen: Von der Zirkusnummer zum Meistertitel

Bayer Leverkusen Von der Zirkusnummer zum Meistertitel
Bayer Leverkusen steht kurz vor dem Meistertitel. Der Weg dorthin war geprägt von Irrungen, Wirrungen und viel schönem Fußball. Ein Blick auf die bewegte ...

Diesmal kann es nicht schiefgehen. Bayer 04 Leverkusen wird der neue Deutsche Fußball-Meister. Entweder schon an diesem Wochenende. Oder in den kommenden Wochen. Vor dem Saisonfinale hat Leverkusen 16 Punkte Vorsprung auf die zweitplatzierten Bayern und VfB Stuttgart. Das wirkt fast übermächtig – ganz so, als wolle der viel zitierte Fußballgott dieses Mal auf Nummer sicher gehen. Dass der in Leverkusen noch etwas gutzumachen hat, belegt die Geschichte.

Denn für den schönsten Fußball der Liga stand Bayer 04 schon oft. Aber halt auch fürs knappe Scheitern. Besonders schlimm war es damals in Unterhaching, in der Saison 1999/2000. Als Tabellenführer mit drei Punkten Vorsprung musste Leverkusen nur noch beim Aufsteiger gewinnen, um erstmals Meister zu sein. Sie verloren mit 0:2, der junge Michael Ballack leitete die Niederlage mit einem Eigentor ein.

Das Problem mit "Vizekusen" und "Meisterkusen"

Auch zwei Jahre später flossen Tränen. Wieder war Leverkusen die spielstärkste Mannschaft im Land, diesmal konnten sie sogar drei Titel gewinnen: Meisterschaft, DFB-Pokal und die Champions League. Am Ende waren sie überall Zweiter. Diese ständigen zweiten Plätze, von denen andere Vereine oft nur träumen können, gerieten zum Trauma. Der Verein wurde als „Vizekusen“ verspottet – reagierte aber mit rheinischem Humor. Das Unternehmen Bayer ließ sich den Begriff „Vizekusen“ beim deutschen Patentamt in München als Marke schützen.

Ein Vorgang, über den man nach diesem Wochenende vielleicht noch einmal nachdenken muss. Das Problem: Auch den Begriff „Meisterkusen“ ließ sich Bayer zehn Jahre lang schützen, kündigte diese Wortmarke aber im Februar 2010 beim Amt wieder auf. Nach den ersten spektakulären Siegen in dieser Saison ließ sich nun jedoch ein Mann aus Tuttlingen den Begriff „Meisterkusen“ schützen. Für entsprechende T-Shirts des neuen Meisters könnte das schwäbische Cleverle nun auf Lizenzgebühren hoffen.

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Hauptsache immer viel Rummel: Trainer Christoph Daum trug sogar den blauen Anzug des Sponsors.

Foto: imago

So war sie oft, die Geschichte von Bayer Leverkusen: voller Irrungen, Wirrungen und schönem Fußball. Man kann diese Geschichte nicht ohne die Person Reiner Calmund erzählen, den XXL-Manager vom Rhein. 27 Jahre arbeitete der „Calli“ für Bayer Leverkusen. Tag und Nacht. Was 1976 als Jugendleiter und Stadionsprecher begann, wurde eine der größten Manager-Karrieren der Bundesliga. Dazu muss man wissen: Calmund ist im Prinzip ein Kölner, er wuchs in Sichtweite des Doms auf. Der 1. FC Köln war sein Herzensverein. Aber dort kam er nicht unter. Bis Bayer Leverkusen auf den jungen Jugend- und Amateurtrainer aufmerksam wurde, der damals noch schlank war und der sich auch bei Regen auf jedem Fußballplatz der Region herumzutreiben schien. Er schrieb für die „Kölnische Rundschau“ sogar über diese Spiele.

Calmund holte Stars in die Manege

Diesen Tausendsassa zu holen, war der Grundstein für fast alles, was danach im Leverkusener Fußball passierte. Die Stadt liegt nur ein paar Hundert Meter von Köln entfernt, an der großen Rheinbrücke der Autobahn A1. Neben den Brückenpfeilern liegt der Trainingsplatz. Hier wollte Calmund einen zweiten Fußball-Riesen aufbauen, quasi neben seinem 1. FC Köln. Er machte das so gut, dass der FC im direkten Vergleich zeitweise wie ein Zwerg wirkte. Oft empfing Bayer in der Champions League die Weltstars von Real Madrid oder Manchester United, während Köln nebenan in der zweiten Liga spielte.

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Ein Bild, das in die Geschichte der Bundesliga einging: Michael Ballack am Boden nach seinem Eigentor am letzten Spieltag im Mai 2000 in Unterhaching.

Foto: imago

Calmunds wichtigster Kniff, um das zu schaffen: Zirkus! Er selbst nannte es „Zirkus Sarrasani“. Sein Verein hatte nämlich ein Imageproblem. Es war die Werkself des Chemiekonzerns Bayer AG, die Fußballer wurden als Pillendreher oder Retortenclub abgetan. Sie waren weder cool noch erfolgreich. Mit Calmund änderte sich das. Er baute mit seinem Sachverstand und der Unterstützung des Weltkonzerns Bayer AG ein globales Fußballnetzwerk auf, holte Nationalspieler aus Asien und Südamerika und suchte vor allem Identifikationsfiguren, die Leverkusen in die Schlagzeilen bringen sollten - quasi als Zirkusstars. Er lockte den Weltstar Bernd Schuster aus Spanien zurück und holte Weltmeister Rudi Völler aus Frankreich an den Rhein. Dazu viele Trainer, die sich für keinen frechen Spruch zu schade waren: Dragoslav Stepanovic, Christoph Daum, Klaus Toppmöller.

Helmut Kohl musste Calmund bremsen

Nach der deutschen Einheit musste sich sogar Bundeskanzler Helmut Kohl einschalten, damit Calmund nicht die halbe DDR-Nationalmannschaft verpflichtete. Der Calli saß schon mit Westspielzeug bei den DDR-Stars im Plattenbau, da suchten andere Bundesligaklubs noch nach den Adressen. Mit Ulf Kirsten, Heiko Scholz und Andreas Thom holte er drei ostdeutsche Stars, den Kauf von Matthias Sammer verhinderte Kohl.

Während der umtriebige Calmund in Leverkusen über den Vorstandsposten bis zum Geschäftsführer aufstieg, wurde sein Verein immer erfolgreicher. UEFA-Cup-Sieger 1988, DFB-Pokalsieger 1993, viele Teilnahmen an der Champions League, aber eben auch viele zweite Plätze in der Bundesliga: 1997, 1999, 2000 und 2002. Nach der Ära Calmund kam 2011 ein weiterer zweiter Platz dazu.

Sportlich wurde Leverkusen schnell zu einem Drehkreuz in Fußball-Europa: Gefühlt spielte zeitweise die halbe deutsche und brasilianische Nationalmannschaft bei Bayer, allein beim Finale der Weltmeisterschaft 2002 zwischen beiden Ländern gehörte ein halbes Dutzend der Spieler zu Leverkusen. Auch Nationaltrainer Rudi Völler war damals ein Mann von Bayer. Noch heute, als DFB-Sportdirektor, hat Völler ein Büro im Leverkusener Stadion.

Ulf Kirsten (2.v.re.) jubelt auf der Ehrenrunde mit der Trophäe, daneben Heiko Scholz (Mitte) und Christian Wörns (alle

Der bisher letzte Titel für Leverkusen: 1993 gewann Bayer den DFB-Pokal gegen Herthas Amateure, hier feiern die früheren DDR-Stars Ulf Kirsten (rechts) und Heiko Scholz.

Foto: imago

Ob Stars wie Lucio, Zé Roberto, Paulo Sergio oder Emerson: Bayer holte immer starke Südamerikaner und verkaufte sie für viele Millionen. In einem legendären Leserbrief in einer Dortmunder Zeitung wurde gefragt, ob es zwei Brasilien gibt: Eins, wo Leverkusen seine Spieler findet. Und eins, wo die schlechteren Profis der anderen Klubs herkommen. Auch deutsche Stars wie Ballack, André Schürrle oder später Toni Kroos und Kai Havertz trugen in jungen Jahren das Trikot mit dem Bayer-Kreuz.

Doch in den wildesten Jahren hatte der Dompteur „Don Calli“ nicht alles im Griff, auch das gehört zu Bayers Geschichte. Christoph Daum, der zuvor noch auf Wunsch eines Sponsors in einem knallblauen Anzug mit Lackschuhen an der Seitenlinie gestanden hatte, flog mit Kokainkonsum auf und hochkant raus. Auf die Frage, warum er nicht noch die B-Probe bei Daums Haarprobe abgewartet habe, sagte Calmund: „Ich setze mich doch nicht zehn Tage auf eine Bombe!“ Schlagzeilen, die es heute im Fußball nicht mehr gibt.

"Lieber 'ne Nase Koks als Berti Vogts"

Die Verpflichtung von Berti Vogts wurde danach zur erfolglosen Lachnummer, obwohl - oder weil - der frühere Bundestrainer die ersten Minuten eines Spiels von der Tribüne aus verfolgte und erst danach zur Mannschaft ging, weil er von oben angeblich besser sehen konnte. Auf Plakaten vorm Stadion stand: „Lieber 'ne Nase Koks als Berti Vogts.“ Im Abstiegskampf der Saison 2002/03, der aus dem Champions-League-Finalisten Leverkusen fast einen Zweitligisten gemacht hätte, ging es am Ende mehr um dubiose Geldzahlungen sowie staatsanwaltschaftliche Ermittlungen als um Fußball. Richtig aufgeklärt wurde das nie. Aber für Calmund war es das Ende als Fußball-Manager. Die Bayer AG zog lieber einen Schlussstrich.

Für sein Erbe hatte er gesorgt: Völler übernahm als Geschäftsführer und größte Attraktion im Bayer-Zirkus. Ihm folgte zuletzt der frühere Bremer Simon Rolfes. Heute wirkt die Mannschaft des Tabellenführers wie ein Klon früherer Zeiten: spielstarke Jungs aus dem Ausland, dazu deutsche Toptalente wie Florian Wirtz. Ihre Meisterschaft wird die Krönung eines langen Weges, auf dem Bayer Leverkusen Geschichte und Geschichten geschrieben hat.

Auffällig ist: Die Meisterschaft gelingt erst jetzt, wo der Verein ruhiger und seriöser geworden ist und nicht mehr für Zirkus stehen will. Die größte Identifikationsfigur ist nun der Trainer, Xabi Alonso. Und das ausgerechnet in Leverkusen, wo Bayer-Geschäftsführer Wolfgang Holzhäuser einst spottete, Trainer seien nur eine temporäre Erscheinung.

Leverkusen wird Meister und Köln steigt ab: Das wäre eine besondere Pointe dieser rheinischen Fußballgeschichte. Das hätte Calmund nicht mal im Traum geglaubt.

Info

So wird Leverkusen Meister

Sechs Spieltage vor Saisonende kann Leverkusen an diesem Wochenende Deutscher Meister werden. Es wäre der erste Titelträger seit 2013, der nicht Bayern München heißt. Die Bayern gewannen zuletzt elf Mal hintereinander die Meisterschale. Angesichts von 16 Punkten Vorsprung stünde Leverkusen bei einem Heimsieg gegen den SV Werder (Sonntag, 17.30 Uhr, live bei DAZN) auf jeden Fall als Meister fest – vielleicht holt Bayer den Titel aber auch schon am Sonnabend auf dem Sofa. Wenn nämlich die direkten Verfolger München (gegen Köln) und Stuttgart (gegen Frankfurt) ihre Spiele verlieren, steht Leverkusen schon vor dem Heimspiel gegen Werder als Meister fest. Wenn Bayern und Stuttgart jeweils maximal einen Punkt holen, reicht Leverkusen ein Unentschieden gegen Bremen zum Titel.

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