„Es braucht Sexualpädagogik, die den Namen auch verdient“
Mirijam Hall, Vorsitzende der AIDS Hilfe Wien, war zum Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember zu Gast im FM4 Studio und hat mit uns über die aktuelle Situation in Österreich gesprochen.
2023 lebten weltweit fast 40 Millionen Menschen mit dem HI-Virus, in Österreich waren 2023 zwischen 8.000 und 9.000 Menschen mit HIV infiziert. Auf solch wichtige Statistiken macht zum Beispiel der Welt-AIDS-Tag, diesen Sonntag, am 1. Dezember, aufmerksam. Der 1988 von der WHO ausgerufene Tag hat sich zum Ziel gesetzt, Solidarität mit HIV-Infizierten und an AIDS Erkrankten und ihnen nahestehenden Menschen zu zeigen, und ist auch Anlass, wieder vermehrt den Blick auf die aktuellen Fortschritte in der AIDS-Forschung zu richten.
Radio FM4: Wie sieht denn die Situation in Österreich für Menschen aus, die an AIDS erkrankt sind? Und wie sieht die Behandlung aus?
Mirijam Hall: Menschen, die tatsächlich an AIDS erkrankt sind, haben wir in Österreich zum Glück wirklich nur mehr sehr wenige, weil die modernen Therapiemöglichkeiten für Menschen, die sich mit dem HI-Virus infiziert haben, wirklich tolle Erfolge liefern. Wenn man in regelmäßiger Therapie ist, gelingt es eigentlich, dass weit über 90 Prozent der Betroffenen eine Viruslast unter der Nachweisgrenze haben und damit sogar nicht einmal mehr ansteckend sind. Also AIDS ist zum Glück etwas, was wir nur mehr ganz selten sehen und was in spezialisierten Zentren behandelt wird.
Radio FM4: Wie sieht die Behandlung aus?
Mirijam Hall: Wenn AIDS ausgebrochen ist, ist es oft eine Multisystemerkrankung, die sich ganz unterschiedlich äußern kann. Je nachdem, was tatsächlich im Körper passiert, wird die angepasst therapiert. Das kann man so generell eigentlich gar nicht erklären, weil es eben ganz verschiedene Organsysteme betreffen kann.
Radio FM4: Sie arbeiten bei der AIDS Hilfe Wien. Was sind da die Aufgaben?
Mirijam Hall: Die AIDS Hilfe ist ein Verein, der sich hauptsächlich mit dem Thema HIV, aber auch sexuelle Gesundheit im Generellen beschäftigt und dafür auch Lobbying betreibt. Was wir in unserem Haus machen, ist einerseits, den kostenlosen und anonymen HIV-Test anzubieten, der vom Bundesministerium gezahlt wird. Da kann man jederzeit zum Testen kommen. In den letzten Jahren hat sich das Leben mit HIV einfach so gewandelt, dass sich auch unsere Aufgaben ein bisschen gewandelt haben und wir mittlerweile ein Kompetenzzentrum für sexuelle Gesundheit insgesamt sind, also auch mit anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen beschäftigt sind und da auch Tests anbieten. Darüber hinaus haben wir Sozialarbeit, psychologische Unterstützung, aber auch ganz viel Präventionsarbeit, zum Beispiel über 200 Schulworkshops jedes Jahr vor Ort, Testungen, Freiwilligenarbeit.
Radio FM4: Was sind die aktuellen Herausforderungen?
Mirijam Hall: Im Laufe dieses Jahres ist uns eine ganz große Sache gelungen, nämlich, dass seit 1. April die PrEP, also die Prä-Expositions-Prophylaxe, die man schluckt, um sich nicht anzustecken, von der Krankenkasse rückerstattet wird. Da waren wir sehr lang sehr damit beschäftigt, dass das möglich ist, weil einfach ein barrierearmer Zugang zu solchen Medikamenten ganz entscheidend ist, damit möglichst wenige Menschen sich mit dem HI-Virus infizieren. Bei anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen haben wir gerade sehr große Herausforderungen, weil die zum Teil sehr stark im Steigen sind. Also z.B. Chlamydien, wo wir mit verschiedensten Maßnahmen auch versuchen, einerseits Awareness es zu schaffen und andererseits die Versorgung zu verbessern.
Radio FM4: Werden Menschen, die mit HIV infiziert sind, noch diskriminiert? Wie schaut es zum Beispiel im Gesundheitssystem aus?
Mirijam Hall: Eine unserer Aufgaben als Verein ist es auch, dass wir eine Meldestelle für Diskriminierungsfälle sind, um diese sammeln, den Menschen Unterstützung zukommen zu lassen, auch dagegen vorzugehen, auch zu klagen, wenn das gewünscht ist. Wir sehen, dass 70 Prozent aller gemeldeten Fälle tatsächlich Diskriminierungen aus dem Gesundheitssystem sind, wo ganz unterschiedliche Dinge passieren, von Datenschutzverletzungen - man wird im Wartezimmer als HIV-Patient aufgerufen - bis hin zu solchen Geschichten, dass völlig überzogene, vermeintliche Schutzmaßnahmen getroffen werden - doppelte Handschuhe, Plastikschürze, was auch immer - oder Menschen die Behandlung überhaupt versagt wird. In Zahnarztpraxen haben wir da immer wieder Probleme, dass Patientinnen und Patienten entweder nicht drangenommen werden oder gesagt wird, sie dürfen nur als Allerletzte kommen, weil dann muss man die ganze Ordi desinfizieren. Ich glaube, wenn man mit Menschen, die mit HIV leben, spricht, wird leider jeder und jede Einzelne von mehreren Diskriminierungserfahrungen im Laufe ihres Lebens berichten können.
Radio FM4: Mit HIV kann sich jeder und jede anstecken. Wer sind aktuell die größten Risikogruppen?
Mirijam Hall: Bei den Neudiagnosen, die wir in Österreich haben, gibt es eigentlich zwei Gruppen, auf die man besonders schauen muss. Das eine sind Heteros über 50, weil die sehr oft ganz spät draufkommen, dass sie positiv sind - die sogenannten „late presenters“. Und je später man drauf kommt, desto blöder für die Therapieerfolge. Das ist auf alle Fälle eine Gruppe, gerade von Männern über 50, die über sich selbst sagen, dass sie hetero sind. Und ansonsten Männer, die Sex mit Männern haben, sind nach wie vor auch eine große betroffene Gruppe. Daneben gibt es viele andere Gruppen. Wie Sie richtig gesagt haben, jeder und jede kann sich anstecken und jeder und jede sollte da auf sich achtgeben und auch testen, wenn es Risikokontakte gegeben hat.
Radio FM4: Der große Wunschtraum im Kampf gegen AIDS ist ja die Impfung gegen HIV. In den letzten Tagen war wieder von einer vielversprechenden HIV-Impfung zu lesen. Was hat es damit auf sich?
Mirijam Hall: Impfung ist eigentlich ein verwirrender Begriff in diesem Zusammenhang, weil es gibt eine Studie zu einer Form der PrEP, also der Prä-Expositions-Prophylaxe, die es als schluckbares Medikament ja schon seit längerem am Markt zugelassen und auch in Österreich verfügbar gibt. Jetzt ist ein spritzbares Medikament in Entwicklung, das den großen Vorteil hat, dass es sehr lange wirkt. Das ist eine Depotspritze, die man nur zweimal im Jahr, also alle sechs Monate, verabreichen muss, um sicher vor einer Ansteckung mit dem HI-Virus geschützt zu sein. Das wäre ein absoluter Game Changer. Vor allem in Ländern, wenn es dann verfügbar und leistbar ist, wo die Medikamentenversorgung nicht immer sichergestellt werden kann, wo es einfach rein logistisch ein Problem ist, jeden Tag eine Tablette schlucken zu müssen. Das funktioniert ja nur dann, wenn man es wirklich regelmäßig einnimmt. Das ist aber momentan noch eine Studie, also gerade ist die zweite Phase dieser Zulassungsstudie abgeschlossen worden, und wir sind leider noch ein bisschen entfernt davon, dass wir uns dann tatsächlich darüber unterhalten können, ob wir es auch verabreichen können.
Radio FM4: Durch die Fortschritte in der Behandlung von HIV nimmt vielleicht die große Angst vor AIDS als todbringende Krankheit, die sie ja einmal war, immer mehr ab. Kann es sein, dass Leute deswegen vielleicht unvorsichtiger oder leichtsinniger beim Sex werden, was Verhütung oder auch andere Geschlechtskrankheiten angeht?
Mirijam Hall: Ja, das ist auf alle Fälle ein Risiko und da muss man sagen, dass wir in Österreich ja unsere Hausaufgaben auch noch nicht wirklich gut erledigt haben, weil das einzige, was hilft, um das zu verhindern, ist Wissen rund um sexuelle Gesundheit, rund um Sexualität generell. Wir haben in Österreich die Situation, dass es zum Beispiel keine Qualitätskriterien für sexualpädagogische Unterrichtseinheiten gibt. Das ist eigentlich Kraut und Rüben. Da werden die Schulen vollkommen sich selbst überlassen und am Ende kommt halt raus, dass wir auch große Wissenslücken haben, und zwar über alle Altersklassen hinweg. Von Kindern bis zu Hochbetagten gäbe es da tatsächlich viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Der Verhütungsbericht des Gesundheitsministeriums hat gezeigt, dass wir tatsächlich ein großes Issue bei den ganz Jungen haben, die schon sexuell aktiv sind und wo über 40 Prozent gar nicht verhüten, also weder Schwangerschaftsverhütung betreiben noch sich vor sexuell übertragbaren Erkrankungen schützen. Die Zahlen der sexuell übertragbaren Erkrankungen, die stetig im Steigen sind, zeigen das ja auch, dass das sehr negative Effekte hat.
Radio FM4: Das heißt, es bräuchte mehr Aufklärung.
Mirijam Hall: Auf alle Fälle und vor allem auch kostenlosen Zugang zu Kondomen, zu Verhütungsmitteln insgesamt. Wenn man Geld bezahlen muss, ist das halt eine zusätzliche Hürde.
Radio FM4: Die Organisation UNAIDS der Vereinten Nationen, die den Welt-AIDS-Tag organisiert, und die AIDS Hilfe Wien haben sich zum Ziel gesetzt, die AIDS-Pandemie bis 2030 zu beenden. Ist das schaffbar?
Mirijam Hall: Ich halte es auf alle Fälle für schaffbar in unseren Breitengraden. Es bräuchte halt ein Maßnahmenpaket, niederschwelligen Zugang zu Testungen, niederschwelligen Zugang zur Therapie, eine Awareness dafür, dass sich Menschen testen sollen, wenn sie Risikokontakte gehabt haben, auch wenn die schon lange her sind. You never know. Und dann Aufklärungsarbeit, Aufklärungsunterricht in den Schulen, Sexualpädagogik, die den Namen auch tatsächlich verdient, und niederschwelligen Zugang zu Verhütungsmitteln. Kondome nutzen. Das würde in Wirklichkeit, glaube ich, eigentlich schon reichen, wenn man das gescheit durchziehen würde.
AIDS-Hilfen Österreich
Eine Übersicht über die Kontaktmöglichkeiten zu den österreichischen AIDS-Hilfen und ihre Testangebote findest du auf aidshilfen.at