"Ringkampf im Minenfeld": Wall-Street-Riesen bereiten sich auf Turbulenzen nach US-Wahl vor
Nachtschichten, Schock-Modelle, Unterstützung aus Übersee - die US-Finanzindustrie stellt sich auf heftige Börsenreaktionen nach den US-Wahlen ein. Auch im Finanzministerium werden die Lichter eher nicht ausgehen.
Weltweit bereiten sich Banker, Investoren und Händler auf eine anstrengende Zeit vor: Die US-Wahlen haben begonnen, das Rennen ist völlig offen - und es könnte Tage oder sogar Wochen dauern, bis feststeht, ob Kamala Harris oder Donald Trump die US-Präsidentschaft gewonnen haben.
Seit Wochen sagen die Märkte einen Sieg von Trump voraus: Die Aktienkurse stiegen, ebenso wie der Dollar und Kryptowährungen. Die Anleiherenditen legten zu. Sollte Harris am Ende aber siegreich sein, könnten die beliebten "Trump-Trades" schnell rückgängig gemacht werden, was über Nacht zu großen Marktschwankungen führen würde.
In der gesamten Finanzbranche sind US-amerikanische Mitarbeiter für Nachtschichten eingeteilt. Finanzgiganten wie Goldman Sachs und JPMorgan Chase haben zusätzliche Teams zusammengestellt, die die ganze Wahlnacht und falls nötig an den folgenden Tagen an ihren Computern sitzen werden, um auf Kursturbulenzen reagieren zu können. JPMorgan Chase wird diese Nacht das Personal in Europa und Asien aufstocken, um das erwartete Handelsvolumen zu bewältigen und auf heftige Marktbewegungen reagieren zu können. Bei Goldman Sachs werden Hunderte Händler bis tief in die Nacht vor Ort in New York sein, während sich weitere bei Bedarf von zu Hause aus einloggen können. "Ich werde vor dem Bildschirm kleben", zitiert die "Financial Times" Vikram Prasad, den globalen Leiter des Handels mit Kreditprodukten bei der Bank Citi.
Vor allem am Anleihe- und am Devisenmarkt wird direkt nach dem Beginn der Stimmenauszählung mit einer längeren Phase hoher Volumina und erhöhter Volatilität gerechnet, denn an diesen wird rund um die Uhr gehandelt. Das gilt auch für Kryptowährungen wie Bitcoin. An den Terminmärkten werden sich zunächst die Aktien-Futures bewegen - bevor erst die asiatischen, dann die europäischen und schließlich die US-Aktienbörsen öffnen. "Der 5. November wird ein Ringkampf mit verbundenen Augen in einem Minenfeld", sagt Calvin Yeoh, Portfoliomanager bei Blue Edge Advisors in Singapur der Finanznachrichtenagentur "Bloomberg". "Der Wahlausgang ist so knapp und von vielen Faktoren abhängig, dass es sehr schwierig ist, sich zu positionieren."
"Trump-Trades" im Blick
Trump und Harris liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen - an den Finanzmärkten wird ein Sieg Trumps für etwas wahrscheinlicher gehalten als ein Sieg von Harris. "Es ist ein Münzwurf - aber einer, der eindeutig gegen Harris ausfällt", beschreibt der "Economist" die Stimmung an den Finanzmärkten. Es ist ein Münzwurf, der die US-Politik dramatisch verändern könnte - mit unabsehbaren Konsequenzen.
An der Wall Street sind deshalb viele Büros in der Nacht besetzt - und es gibt etwa Unterstützung von Teams in Hongkong und Singapur, die um Hilfe gebeten wurden. Sie beobachten beispielsweise beliebte "Trump-Trades" - etwa Wetten auf einen steigenden Dollar oder auf fallende Anleihe-Kurse - und sind bereit, entweder einzusteigen oder die Notbremse zu ziehen.
Ganz vorne dabei ist "Bloomberg" zufolge der in London ansässige Hedgefonds Fulcrum Asset Management. Er hat sein "Schock"-Computermodell speziell für die Nachwehen der US-Wahlen vorbereitet. Dafür wurden monatelange Daten von Wettmärkten und Umfragen verwendet, um herauszufinden, wie sich verschiedene Anlageklassen voraussichtlich bewegen werden, wenn das Wahlergebnis klarer wird. Normalerweise handele das britische Team nicht über Nacht, sagte Chief Investment Officer Suhail Shaikh Bloomberg. Aber nun werden einige Portfoliomanager und ein Händler da sein, um nach unerwarteten Ereignissen Ausschau zu halten. Auch er werde bis mindestens am Morgen im Büro bleiben - bei Bedarf könne er dort kurz auf einer Couch schlafen.
Langfristig orientierte Investoren mahnen derweil zur Gelassenheit. "Die erste Reaktion [der Finanzmärkte] führt fast immer in die Irre", sagte Ed Al-Hussainy von Columbia Threadneedle Investments der "Financial Times". "Die Aktienmärkte brachen nach der Wahl von Trump [im Jahr 2016] ein. Das dauerte einen Tag an, dann erholten sie sich wieder."
Doch im US-Finanzministerium werden wahrscheinlich die ganze Nacht die Lichter brennen. Das für die Überwachung der Finanzmärkte zuständige Team will notfalls eingreifen - etwa wenn es zu extremen Schwankungen bei US-Staatsanleihen oder dem Dollar kommt. Dann wird der Leiter des Teams Finanzministerin Janet Yellen anrufen - und um eine Erklärung bitten, um die Märkte zu beruhigen.