Demenz-Prävention: Es liegt auch an uns selbst, ob wir dement werden
Jeder kennt Menschen mit Demenz, jeder hat Angst vor Demenz. Die Krankheit sei eben Schicksal, das über einen kommt, heißt es. Doch das ist falsch. Es gibt eine Möglichkeit, fast die Hälfte der Fälle zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern.
„Time is Brain“ steht in Riesenlettern an den Wänden der Stroke Unit des Universitätskrankenhauses rechts der Isar in München. Je schneller ein Patient nach einem Schlaganfall in die Klinik kommt, desto wahrscheinlicher ist die Rettung seines Gehirns. Das wissen mittlerweile viele Menschen und rufen im Notfall schnellstens 112 an.
Doch nirgendwo prangen große Plakate, die uns anleiten, ein gesünderes Leben zu führen, um der Demenz zu widerstehen. Jeder kennt Menschen mit Demenz, jeder hat Angst vor Demenz. Aber sie sei eben Schicksal, das über einen kommt, heißt es, vor allem wenn man alt oder weiblich ist und sich genetisch die falschen Erzeuger ausgesucht hat.
Doch das ist falsch. Die jüngste Forschung macht Mut. 45 Prozent aller Demenzfälle können verhindert oder zumindest hinausgezögert werden. Zu diesem Schluss kommen die Forscher der Lancet-Kommission für Demenz in ihrem neuen Bericht.
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Das internationale Forschungskollegium listet 14 Risiko-Faktoren auf, die Demenz begünstigen, zwei mehr als im Bericht von 2020. Wir können selbst etwas dagegen tun – mit nicht gerade revolutionären Waffen, sind doch die Feinde vertraut: Rauchen, Fettleibigkeit, Bewegungsfaulheit, Bluthochdruck und unmäßiger Alkoholkonsum – alles gute Bekannte eines ungesunden Lebensstils.
Wer die Demenz vertreiben will, sollte gesund leben: kein Tabak, wenig Alkohol, weg mit den zuckrigen Brausen und viel Bewegung. Eine vernünftige Diät ist unumgänglich: dreimal die Woche Obst, Gemüse, Fisch, wenig Fertignahrung und noch weniger Take-out. Denn einer der neu hinzugekommenen Faktoren ist Fett, genauer LDL-Cholesterin.
Schwerhörigkeit ist ein Risiko-Faktor
Aber da sind noch andere Demenz-Faktoren. Einer ist unbehandelte Schwerhörigkeit. Schon in dem Lancet-Bericht von 2020 wurde sie als die gravierendste aller Risiko-Ursachen erkannt. Schwerhörige haben eine zweimal höhere Wahrscheinlichkeit als gut hörende Menschen, Demenz zu entwickeln. Eine Kampagne der Gesundheitsminister für Massen-Hörtests und die Nutzung von Hörhilfen könnte die erfolgreichste Intervention sein, um die Zahl der Demenzerkrankungen zu senken.
Für Hörhilfen gibt es eine schlichte Regel, die für alle Risiko-Faktoren gilt: früh anfangen. Kommt die Hörhilfe zu spät, fehlen längst einzelne Töne, das Gehirn hat sie vergessen, und sie müssen mühsam wieder neu erlernt werden. Man erkennt das an der Ungeduld, mit der ältere Leute stets an ihren Hörgeräten herumfummeln.
An der amerikanischen Yale-Universität wurde erforscht, was bei Mäusen passiert, denen man das Gehörorgan entfernt hatte. Ihr Gedächtnis wurde schwächer, und in ihren Hirnen lagerte sich Amyolid-Beta ein, genau das Protein, das bei der Entwicklung von Alzheimer mitwirken soll. Die tauben Mäuse produzierten fortan ein bestimmtes Protein nicht mehr.
Fügte man dieses indes den Mäusen wieder hinzu, nahm das Amyloid-Beta wieder ab und die Gedächtnisleistung zu. Hörschwächen rechtzeitig mit Hörgeräten zu behandeln, ist für Menschen zumindest derzeit noch der beste Weg.
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Ein anderer, neu hinzugefügter Risiko-Faktor ist Sehschwäche. Warum vermindertes Hören und Sehen zur Demenz-Entwicklung beitragen, ist noch nicht ganz geklärt. Vermutet wird: Das Zurechtfinden in einer verdunkelten Welt und die Mühen zu verstehen, was einem gesagt wird, können zur kognitiven Dauerbelastung werden.
Andere Experten vermuten, dass die Hör/Seh-Probleme das gesellschaftliche Leben der Menschen einschränken, sie vereinsamen lassen und Depressionen nach sich ziehen. Kein Wunder, dass Isolation und Einsamkeit ebenso wie Trübseligkeit auf der Risiko-Liste stehen.
Sudoku als Prävention
Der Bericht verweist nicht nur auf die Segnungen körperlicher Betätigungen hin, sondern auch auf die des Geistes. Videospiele und exzessive Nutzung der sozialen Medien sind weniger förderlich, als eine neue Sprache oder ein neues Instrument zu lernen. Diejenigen, denen das zu viel ist, können auch Kreuzworträtsel lösen, Sudoku spielen oder Puzzles legen.
So weit die Dinge, die wir selber tun können. Der Bericht nennt aber auch Faktoren, die jenseits unserer Kontrolle liegen – Bildung etwa. Wie viele Jahre ein Mensch in Schule und Ausbildung verbringt, macht den Unterschied. Kurz gesagt: je höher die Bildungsabschlüsse, desto geringer das Demenz-Risiko. Luftverschmutzung ist ein anderer Risiko-Faktor. Ihm kann man freilich nur entkommen, wenn man sich aufs Land begibt.
Es gibt mehrere Annahmen, wie die Verschmutzung mit Feinstaub zur Demenz beiträgt. Eingeatmet können diese winzigen Partikel das Risiko für Herzerkrankungen, Schlaganfälle, Lungenkrebs und andere Atemwegsinfekte erhöhen. Schlaganfälle sind allein schon ein Risiko-Faktor für Demenz. Die Kleinstpartikel könnten andererseits in die Blutbahn geraten und die Wände der Blutgefäße kompromittieren.
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Die Lancet-Studie enthält genug Beweise für die Stichhaltigkeit der Forschung. Die Psychiatrie-Professorin Gill Livingston, Leiterin der Lancet-Kommission, fasst den Fortschritt in Zahlen zusammen: „Ein Rückgang (der Demenz) um 25 Prozent in den letzten 20 Jahren.“ Jedenfalls in der westlichen Welt. Dieser Erfolg ist nur möglich, wenn Ärzte und Patienten die Risiko-Faktoren bearbeiten, die wir selbst in der Hand haben. In China etwa sieht es nicht so hoffnungsvoll aus, dort wachsen die Zahlen der altersbedingten Demenzkranken stetig.
Nachrichten über Demenz sind trotz mancher Erfolge stets deprimierend. Die Mehrheit der Fälle ist nicht heilbar, und die Zahlen werden in den alternden Gesellschaften eher steigen. Umso mehr muss man die 45 Prozent der Erkrankungen, die vermieden oder verzögert werden könnten, begrüßen.
Wenn die Gesundheitspolitik und die Menschen die Liste der Risiko-Faktoren für diese elende Krankheit beherzigen, kann man das Demenz-Risiko deutlich senken. Die Lancet-Studie zeigt, dass – und wie – es geht.
Die Autorin ist Publizistin und schrieb unter anderem „Mütterkriege. Werden unsere Kinder verstaatlicht?“ (Herder). Sie lebt in München.